Wenn der innere Ruf nicht mehr schweigen will
Manchmal beginnt eine Reise nicht mit einem Koffer in der Hand, sondern mit einer Entscheidung tief im Herzen. Meine Transition ist genau eine solche Reise: ein Weg voller Mut, Unsicherheit, Erkenntnisse – und letztlich tiefer Selbstliebe. Heute möchte ich dich mitnehmen auf diesen Weg, den ich Schritt für Schritt gegangen bin. Nicht als geradlinige Erfolgsgeschichte, sondern als echtes, lebendiges Abenteuer zu mir selbst.
Lange bevor ich das Wort „Transition“ überhaupt aussprechen konnte, wusste ein Teil von mir, dass ich anders fühlte. Dass mein Spiegelbild nicht das zeigte, was ich innerlich spürte. Aber Worte dafür zu finden – und vor allem den Mut, sie auszusprechen – das war ein anderer Prozess. Einer, der Jahre dauerte. Einer, der mit Schmerz begann, mit Ehrlichkeit wuchs und mit Stolz weitergeht.
Der Beginn der Reise: Mein Coming-In
Viele sprechen von einem „Coming-Out“. Für mich war es eher ein „Coming-In“ – ein Hineinfinden in meine eigene Wahrheit. Im Jahr 2019 war der Moment gekommen, in dem ich nicht länger verstecken konnte, wer ich wirklich bin. Ich begann, öffentlich als die Frau zu leben, die ich innerlich schon lange war. Und obwohl das für Außenstehende wie eine plötzliche Veränderung wirkte, war es in Wirklichkeit die Entfaltung von etwas, das schon immer da gewesen war.
Dieser Schritt war alles andere als leicht. Er bedeutete Abschied von alten Selbstbildern, von Erwartungen anderer – aber vor allem den Mut, meine eigene Wahrheit anzunehmen. Ich musste mir eingestehen, dass ich nicht länger in einer Rolle leben konnte, die mich innerlich zerfraß. Die Angst, abgelehnt zu werden, war real. Doch noch stärker war der Wunsch, endlich ich selbst zu sein.
Tiefenpsychologische Therapie: Der Raum für meine Wahrheit
Noch bevor ich mich mit medizinischen Aspekten befasste, entschied ich mich für eine tiefenpsychologische Therapie. Nicht, weil ich dachte, dass mit mir etwas nicht stimmte – sondern weil ich einen sicheren Raum brauchte, um meine Gedanken zu sortieren. Ich wollte sicherstellen, dass meine Entscheidung nicht von äußeren Einflüssen oder unbewussten Konflikten geprägt war, sondern aus meinem innersten Kern kam.
Diese therapeutische Begleitung war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Sie half mir, alte Glaubenssätze zu erkennen – zum Beispiel, dass „stark sein“ bedeutete, Gefühle zu unterdrücken. Oder dass „Anpassung“ über Sicherheit geht. Ich lernte, meine innere Stimme zu hören und ihr zu vertrauen. Ich lernte, dass meine Intuition nicht mein Feind ist, sondern mein wichtigster Kompass.
Es ging nicht darum, eine Diagnose zu bestätigen. Es ging darum, Vertrauen in mich selbst aufzubauen. Die Therapie gab mir Halt, Struktur und eine emotionale Landkarte für den Weg, der noch vor mir lag.
Der Körper als Spiegel der Seele: Mein Start mit Hormontherapie
Im Dezember 2021 begann ich mit der Hormontherapie – ein entscheidender Schritt, um meine innere Identität auch körperlich sichtbarer werden zu lassen. Ich erhielt Östrogene und Testosteronblocker, medizinisch begleitet und sorgfältig abgestimmt.
Die körperlichen Veränderungen kamen nicht über Nacht, aber sie waren tiefgreifend. Meine Haut wurde weicher. Meine Gesichtszüge veränderten sich dezent, aber spürbar. Mein Körper wurde runder, meine Emotionalität klarer. Doch die größte Veränderung war unsichtbar: Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben körperlich richtig. Nicht perfekt, nicht vollständig – aber auf dem Weg.
Die Hormontherapie linderte meine Geschlechtsdysphorie erheblich. Sie war wie ein inneres Heimkommen. Die ständige Anspannung, die ich früher kaum benennen konnte, ließ nach. Stattdessen kam eine neue Ruhe. Eine Form von Frieden, die ich nie für möglich gehalten hätte.
Geschlechtsdysphorie: Ein Begriff, der viel mehr ist als ein Symptom
An dieser Stelle möchte ich kurz innehalten und den Begriff Geschlechtsdysphorie etwas tiefer erklären. Denn auch wenn er in medizinischen Kontexten oft rein diagnostisch verwendet wird, ist er für viele trans Menschen vielschichtig und emotional aufgeladen.
Geschlechtsdysphorie beschreibt das Unbehagen oder den Schmerz, der entsteht, wenn das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht und das gefühlte Geschlecht nicht übereinstimmen. Doch das greift zu kurz. Für mich war es nicht nur „Unbehagen“, sondern ein ständiges Gefühl von Entfremdung – ein stummes, zermürbendes Ringen mit dem eigenen Spiegelbild.
Manche spüren Dysphorie im sozialen Kontext: beim falschen Pronomen, beim Gang in eine öffentliche Toilette, bei der Kleidung. Andere erleben sie körperlich – etwa durch sekundäre Geschlechtsmerkmale, die nicht zur eigenen Identität passen. Für mich war es beides. Und ich kann mit tiefer Dankbarkeit sagen: Die hormonelle Veränderung hat mir geholfen, einen Teil dieser Dysphorie loszulassen.
Urologische Untersuchung: Medizin trifft Entscheidungsspielraum
Ein weiterer Meilenstein auf meinem Weg war die urologische Untersuchung. Sie ist eine der medizinischen Voraussetzungen für die genitalangleichende Operation (GAOP, auch geschlechtsangleichende Operation genannt).
Während des Gesprächs mit den Ärzt:innen kam die Frage auf, ob meine Prostata entfernt werden sollte. Ich lernte: Es gibt keine Einheitslösung. Medizinische Standards existieren, ja – aber der individuelle Spielraum ist größer, als viele denken.
Nach reiflicher Überlegung entschied ich mich, die Prostata zu belassen. Nicht aus Unsicherheit, sondern aus dem Wunsch heraus, meinem Körper mit Respekt und Selbstbestimmung zu begegnen. Regelmäßige endokrinologische Kontrollen sichern diesen Weg medizinisch ab.
Diese Erfahrung war für mich ein kraftvolles Symbol: Ich darf Nein sagen. Ich darf Ja sagen. Ich darf entscheiden – und zwar nicht nur auf Grundlage von Empfehlungen, sondern basierend auf meinem eigenen Gefühl von Ganzheit.
Die Bewilligung der OP: Zwischen medizinischer Logik und emotionalem Durchbruch
Im Dezember 2024 hielt ich den Bescheid der Barmer in den Händen: Die Kostenübernahme für meine geschlechtsangleichende Operation war genehmigt. Ein dünner Umschlag, ein nüchternes Schreiben – und doch war es einer der emotionalsten Momente meines Lebens.
Ich erinnere mich, wie ich ihn mehrfach las, fast ungläubig. Nicht wegen der Bürokratie. Sondern wegen der stillen Anerkennung, die zwischen den Zeilen spürbar war. Der Bescheid war nicht einfach nur eine Verwaltungsentscheidung. Er war – für mich – eine Form von Sichtbarkeit. Von offizieller Seite, ja, aber auch im Spiegel meiner Selbstwirksamkeit. Ich hatte mich durchgekämpft. Ich hatte nicht aufgegeben. Und nun war ich gehört worden.
Die bevorstehende Operation ist für mich weit mehr als ein medizinischer Eingriff. Sie ist die äußere Vollendung eines langen inneren Prozesses. Sie bedeutet nicht, dass ich „erst dann“ eine Frau bin. Sondern dass ich endlich keine inneren Grenzen mehr zwischen Körper und Identität spüre. Dass ich loslassen darf – alte Spannungen, alte Schmerzen, alte Schutzstrategien.
Der Umgang mit Angst: Mut ist keine Abwesenheit von Furcht
Oft werde ich gefragt, ob ich Angst hatte. Und die ehrliche Antwort ist: Ja. Natürlich. Ich hatte Angst vor der Reaktion meines Umfelds. Vor Verlusten. Vor medizinischen Risiken. Vor Einsamkeit. Aber ich hatte noch mehr Angst davor, mein Leben an mir selbst vorbeiziehen zu lassen.
Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Mut bedeutet, sich von der eigenen Sehnsucht leiten zu lassen – und nicht von der Angst. In meinem Fall war es die Sehnsucht nach Authentizität. Nach einem Leben, das nicht durch falsche Erwartungen definiert ist, sondern durch echte Identität.
Diese Angst anzunehmen, sie mit durch die Tür zu nehmen, ohne dass sie das Steuer übernimmt – das war vielleicht der größte innere Kraftakt meiner Transition.
Die Wichtigkeit der richtigen Sprache: Worte formen Wirklichkeit
Ein oft unterschätzter Aspekt meiner Transition war die Sprache. Wie wir über uns sprechen – und wie andere über uns sprechen – beeinflusst, wie wir uns erleben. Die ersten Male, als ich mit meinem neuen Namen angesprochen wurde, liefen mir Tränen über das Gesicht. Nicht weil es falsch war – sondern weil es sich so erschütternd richtig anfühlte.
Der Wechsel von „er“ zu „sie“ war kein bloßes sprachliches Detail. Er war ein Akt der Bestätigung. Ein Zeichen, dass andere mich nicht nur sehen, sondern auch anerkennen.
Ich begann, auf sprachliche Feinheiten zu achten. Nicht aus Pedanterie – sondern weil Sprache Macht hat. Weil sie entweder trennen oder verbinden kann. Und weil ich mich nicht länger mit dem Gefühl begnügen wollte, „gemeint, aber nicht benannt“ zu sein.
Authentizität: Kein Ziel, sondern ein täglicher Prozess
Was bedeutet es eigentlich, authentisch zu sein? Für mich ist Authentizität kein fixer Zustand, den man erreicht und dann abhakt. Sie ist ein täglicher Prozess. Eine Haltung. Ein ständiges Zurückfinden zu dem, was wahr ist – und was nicht mehr passt.
In der Transition geht es für viele Menschen darum, sichtbarer zu werden. Aber Sichtbarkeit allein reicht nicht. Ich wollte nicht einfach nur gesehen werden – ich wollte mich selbst sehen können, ohne Masken, ohne Übersetzung, ohne Kompromisse, die meine Seele verletzen.
Es gab Tage, da war ich wütend. Traurig. Erschöpft. Und auch das gehört zur Authentizität. Nicht stark sein müssen. Sondern fühlen dürfen. Trauern dürfen. Grenzen ziehen dürfen. Und sich dabei nicht zu verlieren, sondern sich näherzukommen.
Der 4. Januar: Mein zweiter Geburtstag
Es gibt Tage, die verändern sich, wenn man sich selbst verändert. Für mich ist der 4. Januar ein solcher Tag. Auch wenn mein Name und meine rechtliche Identität heute andere sind als damals, bleibt dieses Datum für mich ein symbolischer Geburtstag – der Tag, an dem meine Reise sichtbar wurde.
Ich feiere diesen Tag nicht mit Torte und Konfetti. Ich feiere ihn in Stille. In Dankbarkeit. Für die Tränen, die ich geweint habe. Für die Klarheit, die gewachsen ist. Für den Mut, der sich nicht aufdrängte, sondern langsam, beharrlich, aus mir heraus wuchs.
An diesem Tag erinnere ich mich daran, dass Veränderung nicht linear ist. Dass es Rückschritte gibt. Zweifel. Umwege. Und dass genau diese Momente dazugehören – nicht als Hindernisse, sondern als Teil des Wachsens.
Mein Fazit: Die Transition als Weg zu radikaler Selbstannahme
Wenn ich heute auf meine Transition zurückblicke, sehe ich nicht nur einzelne Meilensteine – ich sehe einen Weg voller Selbstbegegnungen. Ich sehe Momente der Klarheit, aber auch der Verwirrung. Entscheidungen, die ich mit offenem Herzen traf. Und viele Fragen, auf die ich keine sofortigen Antworten hatte.
Meine Transition war und ist ein Weg voller Entscheidungen, Erkenntnisse und Fortschritte. Manche dieser Schritte waren leicht, andere schwer. Manche kamen fast von selbst, andere erforderten all meinen Mut.
Doch jeder einzelne Moment hat sich gelohnt. Nicht, weil er mich verändert hat – sondern weil er mich mir selbst nähergebracht hat.
Ich weiß heute: Es gibt keine „richtige“ Transition. Keine Checkliste. Kein Ziel, das alle erreichen müssen. Was zählt, ist das ehrliche Spüren: Lebe ich so, wie es mir entspricht? Spreche ich meine Wahrheit aus – oder schweige ich, um Erwartungen zu erfüllen?
Die Transition ist kein Prozess, den ich abgeschlossen habe. Sie ist eine Haltung geworden. Eine liebevolle, manchmal fordernde, oft kraftvolle Haltung der Selbstannahme. Eine tägliche Entscheidung für mich selbst.
Vielleicht erkennst du dich wieder…
Vielleicht bist du selbst trans. Vielleicht begleitest du jemanden auf seinem Weg. Vielleicht liest du einfach aus Interesse oder Mitgefühl. Ganz gleich, was dich hergeführt hat – ich danke dir, dass du geblieben bist. Dass du zugehört hast. Und vielleicht ein Stück Mut, Verständnis oder Nähe mitnimmst.
Wenn dich mein Weg inspiriert hat, dich selbst klarer zu sehen, dann ist dieser Text mehr als Worte. Dann ist er eine Verbindung.
Und falls du selbst gerade an einem Punkt bist, an dem alles unsicher scheint: Du bist nicht allein. Deine Wahrheit zählt. Dein Tempo zählt. Und du darfst dir selbst vertrauen – auch wenn es Zeit braucht.
📘 Glossar
Transition
Der Prozess, in dem eine trans Person Maßnahmen ergreift, um im Einklang mit ihrer empfundenen Geschlechtsidentität zu leben. Dies kann soziale, rechtliche, medizinische oder psychologische Aspekte beinhalten.
Geschlechtsdysphorie
Ein Zustand tiefen Unbehagens oder Leids, der durch die Diskrepanz zwischen dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht und der eigenen Geschlechtsidentität entsteht. Mehr dazu unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschlechtsdysphorie
Coming-Out / Coming-In
Das Coming-Out beschreibt den Moment, in dem eine Person anderen ihre Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung offenbart. Das „Coming-In“ betont den inneren Prozess des Erkennens und Annehmens der eigenen Identität – unabhängig vom äußeren Umfeld.
Hormontherapie
Medizinische Behandlung, bei der trans Frauen Östrogene und ggf. Testosteronblocker erhalten, um körperliche Merkmale dem empfundenen Geschlecht anzupassen. Mehr Informationen: https://www.dgfs.info/
Genitalangleichende Operation (GAOP)
Chirurgischer Eingriff, um die äußeren Geschlechtsmerkmale an die empfundene Geschlechtsidentität anzupassen. Sie ist nicht zwingend Teil jeder Transition, wird aber von vielen trans Personen gewünscht.
Tiefenpsychologische Therapie
Ein psychotherapeutischer Ansatz, der sich mit unbewussten Konflikten, inneren Mustern und Beziehungserfahrungen befasst. Wird oft begleitend zur Transition empfohlen oder genutzt. Mehr dazu: https://www.bptk.de/therapie/tiefenpsychologisch/
Authentizität
Das Gefühl, im Einklang mit sich selbst zu leben – ohne Maske, ohne Verstellung. Für viele trans Menschen ein zentrales Ziel ihrer Transition.
Barmer
Eine große gesetzliche Krankenkasse in Deutschland. Die Kostenübernahme für medizinische Maßnahmen einer Transition ist an Voraussetzungen und Gutachten gebunden. Informationen: https://www.barmer.de
Transfrau
Eine Person, der bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, die sich jedoch als Frau identifiziert.
✨ Danke, dass du mich auf diesem Stück meiner Reise begleitet hast.