Einleitung – Heiligabend jenseits der Norm
Heiligabend. Ein Wort, das Erinnerungen weckt. An Lichterketten, die flackern. An die Gerüche von Mandarinen und Tannennadeln. An gespannte Stille zwischen Menschen, die sich manchmal näher stehen sollten, als sie es tatsächlich tun. An Erwartungen, die lautlos im Raum hängen. Und an die eine, tiefe Frage: Was bedeutet dieser Abend – für mich?
Lange war Heiligabend für mich ein Widerspruch. Ich spürte die Magie dieses Moments, doch sie passte nicht zu mir. Oder vielmehr: Ich passte nicht in das Bild, das so oft gezeichnet wird. Die klassische Weihnachtsidylle, mit Vater, Mutter, Kindern und dem Christbaum, fühlte sich an wie ein Film, in dem ich nicht mitspielen durfte. Zu laut war die Stimme in mir, die sagte: „Du bist anders. Du gehörst nicht dazu.“
Doch heute ist das anders. Heute schreibe ich meine Geschichte selbst. Ich habe Heiligabend neu entdeckt – als Spiegel meiner inneren Reise, als Bühne meiner Entwicklung, als leises Versprechen von Hoffnung.
Dieses Fest ist für mich nicht mehr die Bestätigung gesellschaftlicher Erwartungen, sondern eine Einladung zu mir selbst. Eine Einladung zur Selbstreflexion, zum Innehalten, zur Würdigung dessen, was war, und dessen, was noch werden darf.
Die drei Königinnen – Ein Bild, das mehr sagt als Worte
Das Bild, das diesen Text begleitet, hat eine besondere Bedeutung für mich. Drei Frauen. Drei Königinnen. Drei Geschichten. Sie stehen dort nicht zufällig. Sie stehen für die inneren Stimmen, die in mir leben. Sie stehen für Zeit. Für Erinnerung, Gegenwart und Möglichkeit. Und sie erinnern mich daran: Ich bin nicht nur eine von ihnen – ich bin alle drei.
Die linke Königin: Meine Vergangenheit ehren
Ihr Blick ist weich und melancholisch. Sie sieht zurück. In ihren Händen hält sie eine goldene Kugel – Sinnbild für Erfahrungen, für das, was war, für das, was geblieben ist.
Meine Vergangenheit ist voller Brüche. Sie ist gepflastert mit Momenten des Zweifels, mit der Sehnsucht, gesehen zu werden, mit dem Schmerz, nicht ich selbst sein zu dürfen. Aber sie ist auch reich. Reich an Erkenntnissen, an innerem Wachstum, an den ersten zarten Schritten Richtung Wahrheit.
Ich habe viele Jahre gebraucht, um diese Königin in mir zu akzeptieren. Um ihre Stimme nicht zu übertönen mit Scham oder Selbstverurteilung. Heute danke ich ihr. Denn sie erinnert mich daran, wie viel Kraft ich hatte – schon damals, als ich noch gar nicht wusste, wie stark ich wirklich bin.
Vergangenheit bedeutet für mich nicht mehr Last. Sie ist das Fundament meiner Würde.
Die mittlere Königin: Meine Gegenwart gestalten
Sie steht aufrecht. Kraftvoll. Ihr Blick ist klar, beinahe majestätisch. Sie ist ganz im Moment – wach, bewusst, entschlossen. Sie verkörpert, was ich heute bin: eine Frau, die gelernt hat, sich selbst ernst zu nehmen. Eine, die nicht mehr wartet, dass andere sie bestätigen, sondern ihre Stimme erhebt – leise, aber unüberhörbar.
Gerade als trans Frau war es ein langer Weg zu dieser inneren Haltung. Zu oft wurde mir gesagt, ich solle still sein, mich anpassen, weniger fordern. Doch irgendwann wurde mir klar: Würde lässt sich nicht verhandeln. Identität ist kein Kompromiss.
Diese Königin lebt in mir, wenn ich zu mir stehe. Wenn ich „nein“ sage, wo ich früher geschwiegen hätte. Wenn ich Raum einnehme – nicht als Trotz, sondern als liebevolle Anerkennung meiner selbst.
Die rechte Königin: Meine Zukunft träumen
Sie blickt nach vorne. In ihren Händen hält sie ein leuchtendes Symbol. Hoffnung. Vision. Möglichkeit.
Ich glaube, dass Zukunft etwas ist, das wir nicht nur erwarten, sondern erschaffen. Mit jedem Gedanken, mit jeder Entscheidung, mit jeder Geste der Selbstannahme gestalten wir unser Morgen.
Die rechte Königin lädt mich ein, mutig zu träumen. Nicht nur vom nächsten Jahr, sondern vom Leben, das in mir wachsen darf. Sie erinnert mich daran, dass Hoffnung kein Zufall ist. Sie ist eine Wahl. Eine tägliche, manchmal mühsame, immer aber lohnende Entscheidung.
Gerade in der Adventszeit, wenn die Welt draußen ruhiger wird, lausche ich dieser Königin besonders gern. Sie spricht in Bildern, nicht in Zahlen. In Möglichkeiten, nicht in Sicherheiten. Und doch ist sie real – so real wie mein Herzschlag.
Heiligabend als Spiegel innerer Wandlung
Lange habe ich versucht, an diesem Abend „normal“ zu sein. Mich zu fügen in Rituale, die sich fremd anfühlten. Ich saß an Tischen, an denen ich körperlich anwesend war, innerlich aber nicht eingeladen. Ich hörte Geschichten über Engel, Erlöser und Frieden – und spürte nichts als Leere.
Heute weiß ich: Ich darf meinen eigenen Heiligabend gestalten. Er beginnt nicht mit einem Glockenschlag, sondern mit einem stillen „Ja“ zu mir selbst.
Ich entzünde Kerzen nicht, um Tradition zu erfüllen, sondern um Licht in mir zu ehren. Ich höre Musik, die mich berührt. Ich lese Gedichte oder schreibe Zeilen wie diese – um mich zu erinnern, dass ich existiere. Dass ich bedeutungsvoll bin, auch wenn niemand meine Geschichte erzählt.
Diese Form der Selbstbegegnung ist mein Geschenk an mich. Und vielleicht auch an dich, wenn du ähnliche Erfahrungen machst.
Die Magie der Erinnerung – Rückblick als Selbstfürsorge
Es braucht Mut, in die eigene Vergangenheit zu blicken – nicht als Gefangene, sondern als Zeugin der eigenen Reise. Ich habe gelernt, dass Erinnerungen nicht nur Schmerzen hervorrufen, sondern auch stille Würde. Sie erzählen nicht nur von dem, was war – sondern von dem, was ich überlebt habe. Was ich getragen habe. Was mich geformt hat.
Heiligabend ist ein guter Moment, mich bewusst daran zu erinnern: Ich bin durch viele Nächte gegangen, aber keine davon hat mein Licht ausgelöscht. Jede Wunde, die ich getragen habe, war auch ein Zeichen dafür, dass ich fühle – und dass ich lebe.
In einer Welt, die oft laut schreit und urteilt, ist das Erinnern ein Akt der Zärtlichkeit gegenüber mir selbst.
Der Zauber der Gegenwart – Leben in der eigenen Mitte
Die mittlere Königin trägt keine Krone aus Gold, sondern aus Klarheit. Sie ist nicht laut, nicht dramatisch – aber sie ist da. Und sie verändert alles.
Ich bin in einem Körper angekommen, der zu mir gehört. Ich habe gelernt, meiner Stimme zu vertrauen, auch wenn sie manchmal noch zittert. Ich bin nicht perfekt – aber ich bin echt. Und das reicht.
Diese Gegenwart ist nicht immer leicht. Es gibt Tage, an denen ich zweifle. An denen ich mich klein fühle. An denen die Blicke anderer wie Schatten über mein Inneres fallen. Aber in all dem bleibe ich bei mir. Ich erlaube mir, da zu sein – ohne Masken, ohne Anpassung.
Gerade an einem Abend wie Heiligabend, wo so viel projiziert wird, halte ich mich an diese Wahrheit: Ich bin genug. Auch wenn ich nicht ins Bild passe. Auch wenn ich keine klassische Familie habe. Auch wenn ich allein bin. Ich bin nicht unvollständig. Ich bin vollständig – in mir.
Die Hoffnung nähren – Zukunft als bewusste Entscheidung
Was bedeutet Hoffnung wirklich? Für mich ist sie kein bloßes Gefühl. Hoffnung ist Haltung. Widerstand. Kraftquelle. Gerade dann, wenn sie am wenigsten sichtbar ist.
Die rechte Königin in meinem inneren Bild trägt diese Haltung in sich. Sie steht nicht da, weil alles gut ist – sondern weil sie glaubt, dass es gut werden kann.
Sie lädt mich ein, an das Morgen zu glauben. Nicht als Flucht aus dem Heute, sondern als Fortsetzung meiner Reise. Sie sagt: „Du darfst träumen, auch wenn du enttäuscht wurdest. Du darfst glauben, auch wenn du verletzt wurdest. Du darfst weitergehen – in deiner Zeit, auf deinem Weg.“
Diese Form der Hoffnung ist leise, aber unbeirrbar. Sie wird nicht kleiner, wenn andere sie belächeln. Sie wächst aus mir heraus – mit jedem Wort, das ich schreibe. Mit jeder Entscheidung, die ich treffe. Mit jedem Atemzug, den ich in Würde nehme.
Zwischen Licht und Dunkel: Die Realität vieler trans Menschen an Weihnachten
Ich wäre nicht ehrlich, wenn ich Heiligabend nur als spirituelle Reise beschreiben würde. Denn ich weiß: Für viele trans Menschen ist dieser Tag schwer. Er kann Erinnerungen an Ablehnung wachrufen, an den Verlust von Familie, an das Gefühl, nicht willkommen zu sein.
Weihnachten ist ein Spiegel – und was wir darin sehen, ist oft schmerzhaft.
Es gibt Familien, die nicht einladen. Es gibt Tische, an denen kein Platz ist. Es gibt Worte, die verletzen – gerade an diesem Abend. Und es gibt das Schweigen, das noch mehr schmerzt als alles Gesagte.
Ich spreche das aus, weil ich weiß, wie es sich anfühlt. Und weil ich dir sagen möchte: Du bist nicht allein. Deine Geschichte ist real. Dein Schmerz ist real. Aber du bist mehr als das, was dir genommen wurde. Du bist nicht weniger wert, nur weil andere dich nicht sehen können.
Vielleicht verbringst du diesen Abend allein – und vielleicht fühlt sich das schwer an. Aber vielleicht ist es auch eine Gelegenheit, dich selbst zu umarmen. Dich zu feiern. Deine Stärke zu würdigen.
Du musst nicht warten, bis andere dich krönen. Du trägst deine Krone längst.
Rituale neu denken – Ein persönlicher Weg zur Selbstermächtigung
Ich habe begonnen, eigene Rituale für Heiligabend zu entwickeln. Sie sind einfach, aber bedeutsam.
Ich entzünde eine Kerze – für mein früheres Ich, das so lange im Dunkeln gelebt hat.
Ich schreibe mir einen Brief – voller Anerkennung für das, was ich gemeistert habe.
Ich mache einen Spaziergang – ganz bewusst, Schritt für Schritt, mit mir selbst im Gespräch.
Ich höre Musik, die mich heilt. Keine Weihnachtsklassiker, wenn sie sich falsch anfühlen – sondern Klänge, die mein Herz berühren.
Und manchmal weine ich. Nicht aus Trauer, sondern aus Erleichterung. Weil ich heute weiß: Ich darf fühlen. Ich darf weich sein. Ich darf meine Geschichte lieben – auch wenn sie nicht in festliche Lieder passt.
Diese kleinen Rituale sind meine Form von Frieden. Und vielleicht inspirieren sie dich, deine eigenen zu finden.
Weiblichkeit, Würde, Wandlung – Eine trans Perspektive auf Heilung
Ich habe viele Bilder von Weiblichkeit gesehen. Die meisten davon waren nicht für mich gemacht. Sie zeigten Frauen, die ich nicht sein konnte – weil ich einen anderen Weg gegangen bin. Weil mein Körper andere Geschichten erzählt.
Aber heute weiß ich: Weiblichkeit ist kein fertiges Bild. Sie ist ein Prozess. Eine Bewegung. Ein Innenraum.
Ich bin eine Frau, weil ich mich als Frau fühle. Nicht weil ich Erwartungen erfülle. Nicht weil mein Leben „weiblich genug“ erscheint. Sondern weil ich mich in mir selbst erkenne – immer wieder neu.
Und genau das ist es, was ich an Heiligabend feiern möchte: Die Würde, ich selbst zu sein. Die Freiheit, mich nicht mehr zu verstecken. Die Schönheit, sichtbar zu sein – in meiner Wahrheit, mit all meiner Geschichte.
Einladung zur Selbstbegegnung – Du darfst deine eigene Königin sein
An Heiligabend versammeln sich viele Geschichten. Einige sind laut, glänzend, traditionell. Andere sind still, abseits des Rampenlichts. Aber jede von ihnen ist wertvoll. Auch deine. Auch meine.
Ich wünsche dir, dass du in dieser Nacht einen Moment für dich findest – jenseits aller Erwartungen. Einen Moment, in dem du innehältst und dich fragst:
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Welche Königin lebt heute in mir?
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Welche Schatten will ich anerkennen – ohne dass sie mich klein machen?
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Welche Stärke kann ich mir selbst zusprechen – ohne dafür eine Bühne zu brauchen?
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Welche Vision für mein Leben darf heute neu geboren werden?
Diese Fragen sind nicht dazu da, Antworten zu erzwingen. Sie sind Einladungen. Weiche, lichtvolle Impulse, um dich in deiner Tiefe zu berühren.
Was ich dir (und mir) wünsche
Ich wünsche dir ein Heiligabend voller Würde. Nicht zwingend voller Trubel, Geschenke oder Kitsch – sondern voller innerem Leuchten.
Ich wünsche dir:
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Die Weisheit, deine Vergangenheit mit Milde zu betrachten.
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Die Kraft, deine Gegenwart selbstbestimmt zu gestalten.
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Den Mut, deine Zukunft zu umarmen – auch wenn sie noch vage ist.
Und ich wünsche dir, dass du dich selbst erkennst – als Königin deines eigenen Weges. Vielleicht trägst du keine sichtbare Krone, aber du trägst etwas viel Wertvolleres: deine Geschichte, deine Stimme, deine Wahrheit.
Fazit – Heiligabend als innerer Raum
Heiligabend ist nicht nur ein Datum. Er ist ein innerer Raum, den wir betreten dürfen. Ein Raum, in dem wir uns erinnern, wer wir sind – jenseits aller Rollen. In dem wir still werden dürfen – nicht aus Pflicht, sondern aus Verbundenheit mit uns selbst.
In meiner Vorstellung steht dieser Abend nicht mehr für Zwang, sondern für Freiheit. Nicht für Perfektion, sondern für Wahrhaftigkeit. Nicht für das, was fehlt – sondern für das, was in uns lebt.
Und so nehme ich die drei Königinnen in mir an – die Erinnernde, die Handelnde, die Hoffende. Ich lasse sie in mir wirken, als stille Stimmen der Orientierung. Und ich lade auch dich ein, deine inneren Königinnen zu hören.
Denn du bist nicht allein. Wir alle tragen Geschichten. Wir alle suchen Licht. Und manchmal – gerade an Heiligabend – finden wir es in uns selbst.
✨ Danke, dass du mit mir gegangen bist. Möge dein Weg hell sein. Mögest du dich geliebt fühlen. Und mögest du nie vergessen: Du bist die Königin deines Lebens. 🎀
Glossar
Advent
Die vier Wochen vor Weihnachten. In vielen christlichen Kulturen ist es eine Zeit der Erwartung, Vorbereitung und Besinnung. Der Begriff stammt vom lateinischen „adventus“ – Ankunft.
Heiligabend
Der 24. Dezember, traditionell der Vorabend des Weihnachtsfests. In vielen deutschsprachigen Ländern ist er das zentrale Familienfest mit Geschenken, Liedern und Ritualen.
trans Frau
Eine Frau, der bei der Geburt ein männliches Geschlecht zugewiesen wurde, die sich aber als Frau identifiziert. Trans Frauen sind Frauen. Die Transition – also der Prozess der Angleichung von Identität, Ausdruck und ggf. Körper – ist individuell verschieden.
Selbstermächtigung
Ein Prozess, bei dem Menschen lernen, ihre eigene Kraft zu erkennen und zu nutzen, unabhängig von äußeren Bewertungen oder Normen. Im queeren und feministischen Kontext ein zentraler Begriff.
Ritual
Eine wiederkehrende Handlung mit symbolischer Bedeutung. Rituale können Kraft geben, Struktur schaffen und emotionale Prozesse begleiten.
Würde
Ein innerer Wert, der jedem Menschen zusteht. Unantastbar, nicht messbar, nicht verhandelbar. In meinem Text ein zentrales Element, das sich durch alle drei Königinnen zieht.
Hoffnung
Eine bewusste Haltung, die über den Moment hinausweist. Hoffnung ist nicht nur ein Gefühl, sondern oft ein Akt des Widerstands gegen innere oder äußere Dunkelheit.
Weiterführende Links
- LGBTQIA+-Begriffserklärung (u.a. zu trans):
https://www.queerlexikon.net -
Infos zu Trans-Identität und Transition:
https://www.dgti.org