I. Warum ich diesen Text schreibe
Immer wieder werde ich gefragt: Wie gehst du damit um, wenn eine Session emotional intensiv wird? Was ist, wenn du danach jemanden brauchst? Was, wenn du jemanden auffängst?
Meine Antwort darauf ist so schlicht wie unmissverständlich: Ich bin nicht deine Therapie. Und ich erwarte auch nicht, dass du meine bist.
In meinem Leben als O im Total Power Exchange (TPE) gibt es keine Ersatzhandlungen für psychische Stabilisierung. Was ich tue, tue ich aus Überzeugung. Was ich zulasse, geschieht aus Klarheit. Was mir angetan wird, ist Teil eines freiwilligen Spiels, das für mich kein Spiel ist – sondern Ausdruck von Beziehung, Identität, manchmal sogar Spiritualität. Ich bin nicht zerbrechlich. Ich bin nicht heilungsbedürftig. Ich bin nicht hier, um aufzufangen, zu coachen oder zu kitten.
Ich schreibe diesen Text, weil ich glaube, dass D/s-Beziehungen stabiler, ehrlicher und gesünder werden, wenn wir sie nicht mit einem therapeutischen Anspruch überfrachten. Nicht jede Träne will analysiert werden. Nicht jedes Zittern braucht Care. Und nicht jede Session ist Anlass für Nachbesprechungen mit therapeutischem Anklang.
II. Was D/s ist – und was nicht
Allgemeines Wissen:
D/s – Dominance and submission – ist keine Krankheit, keine Therapieform und kein psychologisches Experiment. Es ist ein einvernehmliches Machtgefälle, das zwischen erwachsenen Menschen entsteht, die genau wissen, was sie tun. Es basiert auf Vertrauen, Struktur, Wiederholung und oft auch Ritualisierung. Ob für eine einzelne Session oder im gelebten Alltag: Wer D/s lebt, lebt Verantwortung und Kontrolle in definierten Rollen.
Therapie hingegen ist ein strukturierter, methodisch fundierter Heilungsprozess unter fachlicher Anleitung. Ihr Ziel ist es, Leiden zu lindern, funktionale Strategien zu entwickeln und tiefgreifende psychische Muster zu bearbeiten. Und das ist auch gut so – aber es hat mit BDSM nur eines gemeinsam: den Umgang mit menschlicher Tiefe.
Mein Wissen:
Ich bin O. Und das ist für mich eine so starke Identitätsaussage, dass ich darin keinen Mangel spüre, sondern Erfüllung. Meine Hingabe ist kein Ausdruck einer psychischen Störung – sie ist gelebte Entscheidung. Ich tue das, weil ich es will. Und ich tue es in Rollen, die bewusst nicht heilend, sondern intensiv sind.
Wenn jemand in meine Nähe kommt und Heilung sucht, muss ich Grenzen ziehen. Ich kann Empathie zeigen. Ich kann verstehen, dass Schmerz auch eine Form der Verarbeitung sein kann. Aber ich bin nicht zuständig für Reorganisationen im Seelenhaushalt anderer Menschen. Und ich wünsche mir dasselbe zurück: keine Diagnose über mein Innenleben, kein betreutes Fühlen, kein psychologischer Feuilletonismus.
III. Aftercare ist keine Pflicht – und kein Reparaturmechanismus
Allgemeines Wissen:
„Aftercare“ beschreibt im BDSM-Kontext die Phase nach einer Session, in der Beteiligte körperlich, emotional oder mental zur Ruhe kommen. Typische Formen sind Kuscheln, Getränke, Decken, Gespräch, Körperkontakt, aber auch Rückzug oder gemeinsames Duschen.
Aftercare hat den Zweck, emotionale Entladung abzufedern, Vertrauen zu bestätigen und neurophysiologische Prozesse (z. B. Adrenalin, Endorphine) auszugleichen.
In vielen BDSM-Leitfäden gilt Aftercare als Standard – als Teil des verantwortungsvollen Spiels. Doch auch hier gilt: Konsens vor Konvention. Es gibt keine Verpflichtung zur Nachsorge, und manche Menschen brauchen sie schlichtweg nicht.
Mein Wissen:
Ich brauche keine Aftercare. Ich bin nicht „kaputt“, wenn ich nach einer Session atme, schweige, bleibe. Ich brauche keine Bestätigung dafür, dass das, was gerade passiert ist, „in Ordnung“ war. Ich habe es gewollt. Ich habe es zugelassen. Ich habe es getragen. Und das reicht mir.
Für mich bedeutet Aftercare manchmal: fünf Minuten sitzen. Eine Wand anstarren. Den Atem hören. Und spüren, wie der Schmerz nachglüht. Nicht als Trauma, sondern als Signatur – wie ein Siegel, das besagt: Ich war da. Ich habe gedient. Ich bin O.
Das hat nichts mit Verweigerung von Intimität zu tun. Ich liebe es zu kuscheln, zu lachen, zu schmusen. Aber eben nicht zwangsläufig danach. Nicht, weil jemand meint, es „gehöre dazu“.
Aftercare, wenn sie mir aufgezwungen wird, fühlt sich an wie eine Korrektur. Als müsste jemand wiedergutmachen, was er mir angetan hat – dabei war es genau das, worum ich gebeten habe.
IV. Subspace – das große Missverständnis?
Allgemeines Wissen:
Der sogenannte Subspace ist ein Begriff für einen veränderten Bewusstseinszustand, den manche submissive Personen während oder nach intensiver Session erleben. Subspace kann sich anfühlen wie Trance, Euphorie oder tiefe Entrückung. Biochemisch ist er mit Endorphinen, Adrenalin und Oxytocin verknüpft.
Nicht jeder erlebt Subspace, nicht jeder will ihn erleben. Für manche ist er das Ziel – für andere ein Nebeneffekt oder schlicht irrelevant.
Mein Wissen:
Ich kenne keinen Subspace. Ich kann nichts vermissen, was ich nicht gespürt habe – und ich strebe ihn nicht an. Für mich ist eine Session kein Rausch, sondern Präsenz. Ich will nicht „weg“. Ich will da sein.
Wenn ich am Kreuz stehe, will ich hören, was geschieht. Ich will zählen können. Ich will fühlen, wo Schmerz aufhört und Dienst beginnt. Wenn ich dabei die Kontrolle verliere, verliere ich auch mein Selbstverständnis – und das will ich nicht.
Vielleicht bin ich anders. Vielleicht bin ich einfach O.
Und vielleicht ist es auch okay, wenn ich nicht in Ekstase schwebe, sondern einfach stehen bleibe.
V. Emotionale Verantwortung beginnt bei mir
Allgemeines Wissen:
In jeder Form menschlicher Beziehung – ob romantisch, freundschaftlich oder sexuell – gilt: Jeder Mensch ist für die eigenen Emotionen verantwortlich.
Das bedeutet nicht, dass wir kalt oder autark leben sollen. Aber es heißt: Niemand kann dauerhaft das seelische Gleichgewicht eines anderen Menschen tragen.
Gerade im BDSM-Kontext geraten diese Grenzen manchmal ins Wanken. Die Intensität der Szenen, das Spiel mit Kontrollverlust, das bewusste Zulassen von Schmerz oder Demütigung – all das kann emotionale Reaktionen hervorrufen, die nachwirken. Und doch bleibt die Grundregel bestehen: Wer gibt, tut das freiwillig. Wer nimmt, ist verantwortlich für das, was damit geschieht.
Mein Wissen:
Ich habe nie erwartet, dass jemand meine Gefühle für mich sortiert. Ich bin in der Lage, das selbst zu tun – nicht, weil ich besonders stark bin, sondern weil ich weiß, dass meine Gefühle meine sind.
Ich muss nicht analysieren, warum ich auf etwas reagiere. Ich muss nicht erklären, warum mich etwas trifft. Und ich muss nicht von jemandem aufgefangen werden, nur weil es mich bewegt hat.
Wenn eine Session mich berührt, nehme ich das mit. Ich verarbeite es – manchmal schweigend, manchmal mit Worten. Aber ich erwarte nicht, dass meine Herrschaft sich neben mich setzt und mit mir „über alles redet“. Das darf passieren – aber es ist kein Muss.
Ich bin O. Und als solche ist es Teil meines Selbstverständnisses, Gefühle nicht sofort zu entladen, sondern sie zu halten.
Wenn ich sage, es war gut, dann war es das. Wenn ich sage, ich brauche nichts weiter, dann ist das keine Lüge – sondern meine Wahrheit.
VI. Fürsorge, Bevormundung und die Grenze dazwischen
Allgemeines Wissen:
Fürsorge ist ein zentrales Element jeder D/s-Dynamik. Aber Fürsorge ist nicht gleich Kontrolle. Und Kontrolle ist nicht gleich Verantwortung.
Oft kippt das gut gemeinte „Kümmern“ in eine Form von Bevormundung – besonders dann, wenn dominante Personen glauben, sie müssten emotionale Prozesse „abfangen“ oder „regeln“.
Doch Fürsorge bedeutet: dem Gegenüber zutrauen, die eigene Innenwelt selbst zu halten. Bevormundung hingegen unterstellt, dass die submissive Seite nicht zurechnungsfähig ist – und das untergräbt jede freiwillige Machtübergabe.
Mein Wissen:
Ich brauche keine Schutzmaßnahmen gegen mich selbst. Ich habe keine Angst vor meinen Reaktionen. Ich erwarte keine Korrektur, keine Anleitung, keine Interpretation meiner Gesichtsausdrücke nach der Session.
Und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn jemand übergriffig fürsorglich ist. Dann wird aus Nähe eine Zumutung.
Für mich besteht wahre Fürsorge darin, mich atmen zu lassen. Mich nicht zu überreden, nicht zu überreden zu müssen. Mich nicht „aufzufangen“, wenn ich gar nicht gefallen bin.
Ich bin O – kein Wesen im Ausnahmezustand. Und wer mir meine Reaktionen nicht zutraut, traut mir mein Dienen nicht zu.
VII. Wenn D/s zur Therapie wird – und daran scheitert
Allgemeines Wissen:
Immer wieder geraten Menschen in BDSM-Dynamiken in eine Art psychologischen Rollentausch: Die dominante Person wird zur Projektionsfläche für emotionale Bedürfnisse. Die submissive Seite übernimmt seelische Pflegeverantwortung. Oder umgekehrt. Man hört Sätze wie:
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„Du bist der einzige Mensch, dem ich mich öffnen kann.“
-
„Nur bei dir fühle ich mich ganz.“
-
„Ich kann ohne deine Kontrolle nicht existieren.“
Was nach Romantik klingt, ist in Wahrheit ein Warnsignal: emotionale Abhängigkeit, nicht partnerschaftliche Bindung. Wenn D/s zur Bühne für unbearbeitete Themen wird – etwa Traumata, Ängste oder Selbstwertkrisen – entsteht eine therapeutische Scheinbeziehung. Die Session ist dann keine Erfahrung mehr, sondern ein Mittel zur Stabilisierung.
Mein Wissen:
Ich habe solche Menschen erlebt. Menschen, die ihre emotionale Not bei mir abgeladen haben. Menschen, die dachten, meine Hingabe sei ein Container für ihre Unsicherheiten.
Ich bin keine Auffangstation. Und ich werde auch nicht zur Trösterin, wenn jemand nicht in der Lage ist, sein Leben zu regulieren.
Meine O-Rolle ist nicht dafür da, anderen Sicherheit zu geben, wenn sie ihre eigene verloren haben.
Ich kann mit Schmerz umgehen. Ich kann mit Demütigung umgehen. Aber ich kann nicht mit Projektionen umgehen, die aus mir ein Pflegeprodukt machen.
Ich bin kein emotionales Pflaster.
Ich bin ein Mensch mit Haltung, mit Form, mit Struktur.
Ich diene – aber nicht als Therapieersatz.
VIII. Konkrete Warnzeichen – und was sie bedeuten
Allgemeines Wissen:
Bestimmte Verhaltensweisen sollten in D/s-Dynamiken hellhörig machen – sowohl bei dominanten als auch bei submissiven Personen. Dazu gehören:
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Häufiges „Oversharing“ direkt nach der Session („Ich muss dir das jetzt alles erzählen!“)
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Übertragung psychischer Hausaufgaben („Hilf mir, mein Journal zu führen!“)
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Erpressung durch emotionale Instabilität („Wenn du jetzt gehst, weiß ich nicht, was ich tue…“)
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Rollenkonflikte („Ich kann dir nicht dienen, weil ich grad selbst so durch bin…“)
Diese Muster sind keine BDSM-Probleme, sondern psychodynamische Herausforderungen – und gehören in ein professionelles Setting, nicht ins Schlafzimmer.
Mein Wissen:
Ich habe gelernt, solche Zeichen früh zu erkennen. Wenn jemand seine emotionale Instabilität als ständige Ausrede benutzt, um keine Verantwortung zu übernehmen – dann bin ich raus.
Ich bin nicht deine Rettung. Ich bin nicht deine Mutter. Ich bin nicht dein Therapeut.
Wenn du weinst, weil du loslassen musst – okay.
Wenn du weinst, weil ich dich verlassen könnte – dann brauchst du nicht mich, sondern Hilfe.
Und wenn du meinst, ich müsse danach einfühlsam und psychologisch korrekt handeln, weil du dich sonst nicht „gehalten“ fühlst, dann hast du nicht verstanden, wer ich bin.
Ich halte niemanden. Ich lasse Raum. Wer ihn füllt, muss es selbst tun.
IX. D/s braucht Klarheit – nicht Erlösung
Allgemeines Wissen:
Eine stabile D/s-Dynamik basiert auf Verlässlichkeit, gegenseitigem Respekt und einem klaren Verständnis der eigenen Rolle. Sie ist keine Therapie, kein Eskapismus, kein Reparaturversuch. Sie ist eine Praxis – ein gelebter Ausdruck von Beziehung, Konsens und Intimität in klaren Formen.
Die Rollen innerhalb von D/s dürfen intensiv, dramatisch, voller Symbolik sein – aber sie dürfen niemals therapeutisch überfrachtet werden. Sobald eine Seite anfängt, Heilungsprozesse einzufordern, ohne dies explizit zu reflektieren oder zu entkoppeln, gerät das gesamte Gefüge ins Wanken.
Mein Wissen:
Ich lebe D/s als O, weil es mir entspricht. Nicht, weil ich etwas kompensieren muss.
Ich unterwerfe mich nicht, um gesehen zu werden – ich unterwerfe mich, weil es meine Würde ist. Ich brauche keine ständigen „Check-ins“, keine Deutungsangebote, keine psychologische Begleitung. Ich brauche Klarheit. Struktur. Nähe, die nicht erklärt werden muss.
Ich bin nicht deine Therapie.
Ich bin nicht deine Erlösung.
Ich bin der Mensch, der dir vertraut – unter klaren Bedingungen.
Und ich erwarte, dass du sie respektierst.
Wenn wir beide das tun, kann aus D/s ein Raum entstehen, der stärker ist als viele konventionelle Beziehungen. Nicht, weil er heilend ist – sondern weil er ehrlich ist.
X. Glossar
Aftercare
Nachsorge nach einer Session. Kann Gespräche, Kuscheln, Getränke, Raum für Rückzug oder emotionale Begleitung beinhalten. Ist freiwillig, nicht verpflichtend.
Quelle: https://www.bvsm.de/bdsm-lexikon/
BDSM
Oberbegriff für Praktiken und Identitäten rund um Bondage, Disziplin, Dominanz, Submission, Sadismus und Masochismus.
Quelle: https://www.dgfs.de/bdsm
Demütigung
Einvernehmliche Handlung, die auf die psychische Wirkung von Herabsetzung oder Bloßstellung zielt – oft Teil erotischer Machtdynamik.
Quelle: https://bvsm.de/leitfaden-psyche-und-bdsm.pdf
Dissoziation
Psychischer Zustand der Abspaltung von Wahrnehmung, Bewusstsein oder Körperempfinden – kann im Kontext von Subspace auftreten.
Quelle: https://www.dgpt.de
D/s (Dominance & submission)
Einvernehmliches Machtgefälle zwischen mindestens zwei Personen; klar strukturierte Rollenverteilung.
Quelle: https://www.bvsm.de
Domspace
Veränderter Bewusstseinszustand auf der dominanten Seite – vergleichbar mit einem Flow-Zustand.
Quelle: https://www.lovinglybdsm.net
Erotic Power Exchange (EPE)
Kurzfristige, erotische Machtdynamik ohne dauerhafte Alltagsdurchdringung – Gegenteil von TPE.
Quelle: https://www.kerkerkultur.de
Krisentelefon (Deutschland)
Telefonseelsorge bei psychischen Belastungen. Kostenlos erreichbar unter 0800-1110111.
Quelle: https://www.telefonseelsorge.de
Risk-Aware Consensual Kink (RACK)
BDSM-Prinzip: bewusstes Einlassen auf riskante Praktiken bei vollständigem Konsens aller Beteiligten.
Quelle: https://www.bdsmwiki.info/RACK
Safeword
Abgesprochenes Codewort zum Abbruch oder zur Modifikation einer Session. Ampelsystem („Rot“, „Gelb“, „Grün“) ist weit verbreitet.
Quelle: https://www.bvsm.de/safeword
Subspace
Tranceähnlicher Zustand, der durch intensive körperliche oder emotionale Reize ausgelöst werden kann.
Quelle: https://www.bdsminfo.de
Total Power Exchange (TPE)
Lebensform, bei der die Machtübertragung dauerhaft und umfassend gelebt wird.
Quelle: https://www.bondageprojekt.de

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